Zwischen Mystik und Soziologie

Ibn Arabi im Dialog mit der Gegenwart

7 Minuten, 58 Sekunden

Zwischen Mystik und Soziologie

Einleitung

In einem in Kürze erscheinenden Beitrag liefert Selman Dilek einen faszinierenden und tiefgründigen Einblick in das Denken des großen Sufi-Meisters Muhyī d-Dīn Ibn ʿArabī (1165 - 1240 n. Chr.). Der Artikel mit dem Titel „Geschichtstheologische Begründung religiöser Vielfalt aus der Perspektive der islamischen Mystik“¹, der dankenswerterweise vorab zur Verfügung gestellt wurde, leistet eine wertvolle Übersetzungsarbeit: Er macht die komplexe, in einem tief religiösen Kontext entstandene Theologie Ibn Arabis für ein modernes, säkular geprägtes deutschsprachiges Publikum zugänglich und diskutierbar. Die Lektüre ist nicht nur eine intellektuelle Bereicherung, sondern auch ein Anstoß, unterschiedliche weltanschauliche Positionen zu schärfen.

Was bei der Lektüre sofort auffällt, sind erstaunliche strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Denkgebäude Ibn Arabis und modernen philosophisch-soziologischen Modellen. Gleichzeitig treten fundamentale Unterschiede zutage, die einen Dialog zwischen diesen Weltsichten umso spannender machen. Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch einer solchen Auseinandersetzung - eine Replik, die Brücken zwischen der akbaritischen Mystik und einem kritisch-realistischen, soziologischen Denken schlägt, aber auch die Gräben nicht verschweigt, die zwischen ihnen liegen.

Die Brücken: Wo sich Mystik und kritische Soziologie treffen

Auf den ersten Blick mögen die Welten der islamischen Mystik des 13. Jahrhunderts und der modernen Soziologie unvereinbar scheinen. Doch bei genauerer Betrachtung offenbaren sich mindestens drei zentrale Berührungspunkte, die zeigen, wie hier ähnliche Grundprobleme der menschlichen Existenz verhandelt werden.

  1. Die geschichtete Realität und der kritische Realismus: Dilek führt aus, dass in Ibn Arabis Lehre die göttliche Essenz (ḏāt) als solche „nie vollständig fassbar“ ist. Der Mensch hat es immer nur mit ihren Manifestationen (tağallī) zu tun. Dies ist eine verblüffende theologische Parallele zu Positionen des kritischen Realismus, die von einer ontologisch unabhängigen Realität ausgehen, welche für den Menschen jedoch stets nur vermittelt zugänglich ist. Unser Wissen über die Realität ist demnach immer eine Konstruktion, die durch biologische, soziale und sprachliche Werkzeuge geformt wird. Sowohl Ibn Arabi als auch der kritische Realismus entgehen so dem naiven Realismus (der glaubt, die Welt „so zu sehen, wie sie ist“) und dem radikalen Konstruktivismus (der die Existenz einer unabhängigen Realität leugnet).

  2. Die Überwindung der Dichotomien: Die akbaritische Mystik löst starre Gegensätze wie Einheit/Vielheit oder Transzendenz/Analogie dialektisch auf. Besonders aufschlussreich ist die Beschreibung, wie die universelle „Struktur“ der göttlichen Namen erst durch die konkrete „Handlung“ der Propheten in ihrem spezifischen historischen Kontext wirksam wird. Dies erinnert stark an den soziologischen Versuch, die Dichotomie von Struktur und Handlung zu überwinden. So wie bei Bourdieu der Habitus - als verkörperte, im neuronalen System verankerte Geschichte - auf ein soziales Feld trifft und Praxis erzeugt, so wird bei Ibn Arabi die göttliche Ordnung erst durch die Praxis der Propheten und ihrer Gemeinschaften zur gelebten Realität. Diese Perspektive bietet einen theologischen Rahmen, um eine starre, ahistorische Scharia-Vorstellung zu überwinden. Die Schaffung einer neuen, den lebensweltlichen Herausforderungen angepassten Praxis könnte so manchem, der Moderne gegenüber skeptischen, gläubigen Muslim dann nicht mehr als defizitär erscheinen, sondern als authentische Methode der Umsetzung des göttlichen Willens in genuin menschliches Handeln.

  3. Historizität und die Rolle der Praxis: Dilek betont, dass die Scharia bei Ibn Arabi eine „dynamische Entwicklung“ durchläuft und die Weisheit der Propheten von den „Möglichkeiten ihrer Völker geprägt“ ist. Dies ist ein interessantes Plädoyer gegen einen starren, ahistorischen Dogmatismus. Besonders die Analyse von Abrahams Traum macht dies deutlich: Die reine, innere Eingebung (ḫayāl) muss durch Interpretation und vernunftgeleitete Deutung in die äußere Praxis übersetzt werden. Ohne diesen Schritt bleibt sie unvollständig oder führt gar in die Irre. Hier zeigt sich ein Primat der Praxis, der die Religion vor der Erstarrung im rein Rituellen oder dogmatisch Abstrakten bewahrt. Gerade diese Anerkennung der Historizität eröffnet die Möglichkeit, bestehende theologisch-historische Traditionen zu würdigen und gleichzeitig, in diesem Geiste, neue, zeitgemäße Wege zu beschreiten.

Die Gräben: Ontologie, Teleologie und die Frage nach der Wirklichkeit

So faszinierend diese Brücken sind, so unübersehbar sind die fundamentalen Differenzen in den Ausgangspunkten. Diese lassen sich in drei Kernfragen zusammenfassen, die den Dialog zwischen den beiden Denkansätzen herausfordern.

  1. Die ontologische Prämisse: Objektiver Idealismus vs. Kritischer Realismus: Für Ibn Arabi ist die Vielfalt der Welt eine objektive Selbst-Offenbarung Gottes im Rahmen der Einheit des Seins (waḥdat al-wuğūd). Eine Perspektive, die sich einem kritischen Realismus verpflichtet fühlt, würde demgegenüber argumentieren, dass diese Vielfalt an ethischen und religiösen Vorstellungen ein emergentes Phänomen ist. Sie sind das Produkt menschlicher Gesellschaften - „imaginierte Ordnungen“ (Harari) oder „soziale Konstruktionen der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann), die jedoch eine reale Wirkmacht entfalten, weil sie sich im dynamischen Wechselspiel von materieller Konstitution, gelebter Praxis und symbolischer Konstruktion entfalten. Die Frage lautet also: Ist die Ordnung, die wir wahrnehmen, die Manifestation einer transzendenten Einheit oder eine emergente Eigenschaft komplexer, materieller Systeme?

  2. Teleologie vs. Kontingenz: Ibn Arabis Geschichtsbild ist, wie Dilek zeigt, zutiefst teleologisch - es beschreibt einen Prozess mit einem klaren Ziel: die „Vervollkommnung des Kreises der Gottesfreundschaft“. Aus einer soziologisch-historischen Perspektive, die von Denkern wie Foucault geprägt ist, erscheint Geschichte jedoch radikal kontingent: ein offener, zielloser Prozess, geformt durch Machtkämpfe, Zufälle und unbeabsichtigte Folgen. Ziele und Sinn werden erst in der Rückschau konstruiert. Unterschätzt eine teleologische Sichtweise nicht zwangsläufig die brutale Zufälligkeit und die oft alles andere als heilsamen Machtdynamiken, die unsere Geschichte, aber gerade auch die islamische Geschichtsschreibung formen? Wie integriert das akbaritische System das Böse, das Leid und das Sinnlose in seinen Heilsplan, ohne es zu verharmlosen?

  3. Der Status der Imagination: Ibn Arabi wertet die Imagination (ʿālam al-ḫayāl) zu einer ontologisch realen Zwischenwelt auf. In einem soziologisch-naturalistischen Denkrahmen ist Imagination primär eine neuro-kognitive Fähigkeit, die Teil der Ausstattung des Menschen als durch und durch biologisch-soziales Hybridwesen ist. Sie erlaubt es, mentale Modelle der Wirklichkeit zu erschaffen. Die tiefe Einsicht Ibn Arabis, dass Menschen Gott gemäß ihrer eigenen Vorstellungskraft erfahren, würde hier als psychologischer und soziologischer Fakt gedeutet. Sein System gibt diesem Fakt eine metaphysische Realität. Was würde sich ändern, wenn man die ʿālam al-ḫayāl nicht als ontologische Ebene, sondern als Metapher für die kreative, wirklichkeitskonstituierende Kraft des menschlichen Geistes liest?

Die pragmatische Wende: Was bewirkt eine Theologie in der Welt?

Diese philosophischen Differenzen sind keine abstrakten Gedankenspiele. Sie führen zu einer entscheidenden, pragmatischen Frage, die vor dem Hintergrund früherer Analysen zur innerislamischen Pluralität besonders relevant wird. In einem früheren Beitrag zur Menschenwürde im islamischen Denken wurde als Fazit formuliert:

Die Menschenwürde im islamischen Denken ist ein vielschichtiges Konzept, das von theologischen, philosophischen und historischen Prämissen geprägt ist. Während die Asch’ariten die göttliche Allmacht betonen und den Menschen als passiven Empfänger göttlicher Gnade betrachten, heben die Maturiditen die Rolle der Vernunft, der Freiheit und der Verantwortung des Menschen hervor.

Es liegt an der heutigen Generation, die Vielfalt der Traditionen zu nutzen, um eine zeitgemäße Perspektive zu entwickeln. Diese Perspektive kann sowohl den islamischen Quellen treu bleiben als auch den aktuellen Herausforderungen gerecht werden. Die Würde des Menschen im islamischen Denken sollte nicht als starres Dogma verstanden werden, sondern als dynamisches Konzept, das immer wieder neu interpretiert und entfaltet werden kann.

In diesem Artikel wird aufgezeigt, dass es einen erheblichen Unterschied macht, mit welchem der vielen möglichen Gottes- und Menschenverständnisse man Theologie und religiöse Praxis gestaltet. Der vorliegende Beitrag zu Ibn Arabi schließt dabei eine Lücke, da die sufische Perspektive in der damaligen Analyse bewusst ausgeklammert wurde. Hier stellt sich nun die Frage, ob die akbaritische Gottes-, Welt- und Menschenvorstellung einen Beitrag leisten kann, Muslimen mit einem Übersetzungsinteresse im Habermasschen Sinne - und dem Ziel, ein authentisch-muslimisches Leben in einem säkularen und pluralen Kontext zu formulieren - einen theologischen Umsetzungsrahmen oder zumindest Anreize für eine notwendig neue Theologie anzubieten.

Die große Stärke der akbaritischen Theologie liegt unbestreitbar in der Formung eines innerlich gefestigten, intellektuell bescheidenen und ethisch toleranten Individuums. Die Deutung des Götzendienstes als Verabsolutierung der eigenen Vorstellung erzieht zur epistemologischen Bescheidenheit. Die Formel „Gotteskenntnis durch Selbsterkenntnis“ macht Religion zu einem tiefen Projekt der Selbstreflexion. Sie wäre ein kraftvolles Gegenmittel gegen Dogmatismus und Fanatismus und könnte ihre Anwender zu einem friedlichen Zusammenleben in einer pluralen Welt befähigen.

Ihre größte Ambivalenz zeigt sich jedoch in der sozial-politischen Praxis. Wenn alles, auch Leid und Unterdrückung, letztlich eine Manifestation eines göttlichen Namens in einem allumfassenden Heilsplan ist, birgt dies die Gefahr des Quietismus: einer passiven Hinnahme des Status quo als gottgewollt. Das System scheint mehr auf die Vervollkommnung des Selbst als auf die Verbesserung der Welt ausgerichtet zu sein. Es beantwortet die Frage „Wie werde ich ein besserer Mensch?“ auf brillante Weise. Aber es lässt die Frage „Wie schaffen wir eine gerechtere Gesellschaft?“ gefährlich offen. Befähigt diese Theologie ihre Anhänger, sich gegen Ausgrenzung und Ungerechtigkeit zu stellen, oder liefert sie ihnen am Ende eine hochdifferenzierte Begründung für den Rückzug in die innere Emigration? Diese Frage ist zentral, da gerade auch für unsere gemeinsame Zukunft hier in Deutschland die gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit muslimischer Akteure eine der Kernherausforderungen darstellt (vgl. Deutschlands Islamdiskurs: Wie eine falsche Religionspolitik und muslimische Verbände uns die Zukunft verbauen).

Fazit: Ein notwendiger Dialog

Die Auseinandersetzung mit der von Selman Dilek so klar aufbereiteten Theologie Ibn Arabis ist mehr als eine historische Übung. Sie zwingt zur Überprüfung der Fundamente des eigenen Denkens. Die akbaritische Mystik bietet eine beeindruckende Vision von innerem Frieden, Toleranz und intellektueller Bescheidenheit. Ihre mögliche Tendenz zum politischen Quietismus bleibt jedoch eine kritische Anfrage, die gerade heute, in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Widersprüche, nicht ignoriert werden kann.

Der Dialog zwischen diesen Welten – der mystisch-theologischen und der soziologisch-analytischen – ist notwendig. Er schützt die eine vor politischer Naivität und die andere vor einem platten Materialismus, der die tiefen Sinnstrukturen menschlicher Existenz übersieht. Dileks Arbeit ist ein willkommener Anstoß für genau diesen Dialog.


¹ Der Beitrag wird im November 2025 im Sammelband „Frieden in Vielfalt: Eine interdisziplinäre Spurensuche“ (ext. Amazon-Partner-Link) (falsafa. Jahrbuch für islamische Religionsphilosophie, Bd. 6), herausgegeben von A. M. Karimi im Karl-Alber-Verlag, auf den Seiten 87-123 erscheinen. Eine Vorabversion ist zudem auf ResearchGate abrufbar.

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