Die DITIB zwischen Reformversprechen und realer Kontrolle

Kritik am Beitrag von Rashid

8 Minuten, 58 Sekunden

Die DITIB zwischen Reformversprechen und realer Kontrolle

In seinem Beitrag in der Herder Korrespondenz zeichnet der Journalist Abdul-Ahmad Rashid das Bild einer DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion), die sich zunehmend zur Mitte öffnet und einen grundlegenden Kurswechsel vollzieht (Rashid 2025). Doch diese Darstellung greift zu kurz. Rashid blendet in dem Beitrag strukturelle und mentalitätsprägende Faktoren aus, die das tatsächliche Veränderungspotenzial der Organisation begrenzen. Der Autor unterstreicht die Hoffnung auf einen Wandel und eine „Emanzipation“ der DITIB, ohne die grundlegenden, seit Jahrzehnten bestehenden Strukturprobleme wirklich zu benennen. Hier liegt auch das Problem eines Teils der aktuellen öffentlichen Debatte zu den muslimischen Verbänden in Deutschland: Sie fokussiert sich auf symbolische Reformen, während grundlegende Haltungen, Mentatlitäten und Abhängigkeiten innerhalb der DITIB und ihre Rolle als politisch kontrolliertes Instrument des türkischen Staates ausgeblendet werden.

1. Organisatorische Reformen ohne strukturelle Entkopplung

Die jüngste Einigung Ende 2023 zwischen Bundesinnenministerium, DITIB und Diyanet sieht vor, dass künftig jährlich 100 Imame in Deutschland ausgebildet werden, um die bisher aus der Türkei entsandten Imame schrittweise abzulösen (BundesministeriumdesInnern 2023). Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach bei der Verkündung der Einigung von einem "Meilenstein für Integration und Teilhabe muslimischer Gemeinden in Deutschland". Die neue Vereinbarung sieht vor, dass die Fachaufsicht über die Imame in Deutschland auf die DITIB übergeht, die Ausbildung im Rahmen bestehender Programme in Nordrhein-Westfalen erfolgt und eine Kooperation mit dem Islamkolleg Deutschland angestrebt wird.

Doch diese Schritte bleiben auf der organisatorischen Ebene stehen. Die eigentlichen Abhängigkeitsverhältnisse werden nicht aufgelöst: Auch künftig werden die in Deutschland ausgebildeten Imame nach Kriterien ausgewählt, die Loyalität zur DITIB und damit zur Diyanet und dem türkischen Staat in den Mittelpunkt stellen. Die Kontrolle über Personal und Inhalte verbleibt bei einer Organisation, die nach deutschem Recht zwar ein e.V. ist, aber faktisch der Diyanet untersteht (BundesministeriumdesInnern 2023).

Die Einigung ist zudem ein weiteres Beispiel für die Konstante der deutschen Politik, weitreichende Entscheidungen über die Zukunft ihrer Muslime in Deutschland nicht im Gespräch oder Streit mit diesen zu fällen sondern auf dem diplomatischen Weg mit ausländisch-religiösen Hoheitsträgern. Auch in der mittlerweile vierten Generation der Arbeitsmigration aus muslimischen Ländern und nach über 65 Jahren des Beginns der dauerhaften Präsenz von Muslimen in Deutschland, wird über ihre Zukunft als Muslime in Deutschland mit ausländischen Staaten verhandelt. Fortschritt sieht anders aus.

2. Ausbildungsinhalte und Theologie weiterhin „auf Linie“

Die Hoffnung, dass eine Imam-Fortbildung in Deutschland - mehr bietet die Einigung nicht - zu mehr theologischer Pluralität führen wird, ist trügerisch. Denn die Diyanet prägt weiterhin das theologische Leitbild und die Inhalte – nicht nur in der Türkei, sondern auch im Ausland. Jüngst hat die Diyanet per Gesetz die Deutungshoheit über Koranübersetzungen erhalten und kann diese verbieten, wenn sie ihrer Ansicht nach nicht den "Grundcharakteristika des Islam" entsprechen. Bereits veröffentlichte "problematische Exemplare" können eingezogen und vernichtet werden – auch digital (Topcu 2025).

Kritiker wie der Theologe Prof. Dr. Sönmez Kutlu sprechen von einer "Bankrotterklärung des türkischen Staates" und einer staatlich diktierten Version des Islam, die die Glaubensfreiheit massiv einschränkt. Theologen wie Ihsan Eliacik sehen darin eine Verletzung des Islam selbst, da sich keine Institution zwischen den Menschen und Gott stellen dürfe (Topcu 2025).

Diese restriktive, politisierte Religionspolitik wird über die Ausbildung und Auswahl der Imame auch nach Deutschland exportiert. Die Auswahl der Lehrkräfte und die Inhalte der Ausbildung bleiben weiterhin unter Kontrolle der Diyanet bzw. DITIB.

Für Akteure in Deutschland, die keinen direkten Einblick in die internen Strukturen von DITIB oder die aktuellen Entwicklungen in der Türkei haben, werden diese Zusammenhänge immer nur dann sichtbar, wenn problematische Top-Theologen oder religiöse Referenten aus dem Umfeld der Diyanet durch ihre öffentlichen Auftritte auffallen und kritisch thematisiert werden. Ein aktuelles Beispiel ist der Auftritt eines ranghohen Diyanet-Beamten in Hamburg, der als bekennender Hamas-Verehrer eine Einladung in einen norddeutsche Moscheeverband erhielt und damit für erhebliche Kritik und mediale Aufmerksamkeit sorgte (NDR 2025).

Solche Vorfälle zeigen auch auf, warum sich die Diyanet auf den Deal mit dem BMI einlassen konnte. Das absolvieren einer Fortbildung in Deutschland für in der Türkei ausgesuchte und ausgebildete Imame und eine vermeintliche Fachaufsicht durch die DITIB wird die inhaltliche und strukturelle Kontrolle der Diyanet nach Deutschland nicht gefährden.

3. Identitätspolitik und Loyalitätspflege als Kernauftrag

Die DITIB präsentiert sich als Religionsgemeinschaft, will zumindest in der deutschen Öffentlichkeit als solche wahrgenommen werden, ist aber in ihrer Praxis und in der Perspektive aus der Türkei vor allem ein Identitäts- und Loyalitätsverein. Ihre zentrale Aufgabe war und ist die Bewahrung der türkischen Sprache, Kultur und theologischen und politischen Loyalität in der Diaspora – im Sinne der Türkei und ihrer jeweiligen Regierung. Die religiösen Dienstleistungen sind dabei nur ein Aspekt unter vielen.

Die Diyanet ist eine der einflussreichsten Behörden der Türkei, beschäftigt über 140.000 Mitarbeitende und operiert in mehr als 100 Ländern. Seit 2018 ist sie direkt dem Präsidenten unterstellt, ihr Jahresbudget übertrifft das mehrerer Ministerien (Topcu 2025). Sie bildet Imame aus, entsendet sie ins Ausland und steuert über ihre Stiftung Bildungs- und Religionsprogramme weltweit.

Die DITIB ist somit strukturell und finanziell eng an die Diyanet und den türkischen Staat gebunden. Die politischen Interessen der Regierung Erdoğan und der wachsende Einfluss konservativer religiöser Orden bestimmen zunehmend die inhaltliche Ausrichtung der Diyanet und damit auch die Ausrichtung der DITIB, aber auch anderer türkischstämmiger religiöser Verbände in Deutschland, die sich in den letzten Jahren in ein Abhängikeitsverhältnis mit der Diyanet begeben haben (Topcu 2025).

Die DITIB fungiert auch weiterhin faktisch als verlängerter Arm der türkischen Politik – und das nicht nur auf symbolischer Ebene. Ihre Strukturen dienen bis heute der politischen Mobilisierung für die Türkei, insbesondere für die AKP und Präsident Erdoğan. Die regelmäßige Nutzung von DITIB-Gemeinden für Wahlkampfveranstaltungen, die Kandidaturen von DITIB-Funktionären für die AKP und die ideologische Einflussnahme bis in die Gemeinden belegen das strukturell-politische Moment des Verbands (Pehlivan 2022). Diese Verschränkung mit politischen Interessen ist mit einer unabhängigen Religionsgemeinschaft unvereinbar.

Die Ditib-Führung weiß sehr wohl um den Schaden solcher Auftritte, dennoch wird sie in der Türkei nur dezent auf die Problematik hinweisen können. Wenn die Akteure trotzdem vor Ort sind, kann sie dagegen nichts anderes machen, als die Berichterstattung darüber auf den Social-Media-Seiten der Gemeinden zu unterbinden. Dies wird jedoch oft durch die eigene Beiträge der auftretenden Politiker konterkariert, die sehr gerne ihren kümmernden Auftritt um die "Diaspora"-Türken in ihren Social-Media-Accounts teilen (Diettrich 2023).

4. Abwehr von Kritik und Blockade von Pluralität

Rashid betont die symbolische Bedeutung der neuen Ausbildungswege – etwa die bessere Sprachkompetenz oder die stärkere Einbindung in den interreligiösen Dialog (Rashid 2025). Doch solange die grundlegenden Strukturen und inhaltlichen Vorgaben von der Türkei und der Diyanet vorgegeben werden, ist ein echter Mentalitätswandel nicht zu erwarten. Der oft beschworene Generationenwechsel oder angebliche „innere Wandel“ ist bislang reine Projektion – die Kontrolle liegt weiterhin in Ankara, und auch die politische Ausrichtung der DITIB ist festgelegt.

Rashid verweist in seinem Beitrag auf Studien (Thielmann 2025) zu den Freitagspredigten der DITIB als Beleg für eine angebliche Öffnung oder Unabhängigkeit des Verbandes (Aslan 2025). Doch aktuelle Beispiele zeigen, wie wenig sich an der politischen Einflussnahme tatsächlich geändert hat: Kurz vor dem 15. Juli 2025, dem Jahrestag des gescheiterten Putschversuchs in der Türkei, veröffentlichte die nach Rashid reformierte Religionsgemeinschaft DITIB erneut eine „Freitagspredigt“, die in rund 900 Gemeinden in Deutschland gehalten wurde (Guevercin 2025a). Die Predigt ist eindeutig Politik im religiösen Gewand, mit der AKP-Politik und Feindmarkierungen über die Moscheekanzel widergegeben wird. Eine Relevanz des Themas für den deutschen Kontext darf bezweifelt werden, es dürfte von der DITIB-Führung jedoch kaum gegenüber glaubhaft erklärt werden können, warum sie zum 15. Juli keine Hutba veröffentlicht haben.

Anstatt sich offen mit berechtigter innermuslimischer und gesellschaftlicher Kritik auseinanderzusetzen, reagiert die DITIB regelmäßig mit Abwehr, Diffamierung und Wagenburgmentalität. Kritiker werden als Islamfeinde oder Verräter gebrandmarkt, innermuslimischer Pluralismus und unabhängige Stimmen systematisch ausgegrenzt und als antimuslimischer Rassismus gebrandmarkt.

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für diese Scheinpartizipation und die Doppelbödigkeit der politischen Kommunikation liefert der Umgang des von Rashid hochgelobten DITIB-Vorsitzenden Muharrem Kuzey mit der gemeinsamen Erklärung zur Verurteilung des Hamas-Terrors nach dem 7. Oktober. Wie Eren Güvercin detailliert schildert, unterzeichnete die DITIB zwar unter öffentlichem Druck in Deutschland zusammen mit anderen muslimischen Verbänden eine Erklärung, die die Taten der Hamas als Terror bezeichnete. Doch gegenüber der türkischen Öffentlichkeit distanzierte sich Kuzey kurz darauf von der eigenen Unterschrift: In Interviews mit türkischen Medien machte er deutlich, dass die DITIB die Erklärung nur auf massiven äußeren Druck hin und widerwillig unterzeichnet habe – intern habe man sogar versucht, den Text abzumildern. Zudem nutzte Kuzey die Gelegenheit, um in der Türkei diejenigen muslimischen Verbände, die sich für eine klare Distanzierung einsetzten, öffentlich als Verräter zu brandmarken (Guevercin 2025).

Hinzu kommt der Import des innertürkischen Diskurses. Kritische und pluralistische muslimische Stimmen werden in der Türkei systematisch an den Rand gedrängt oder mit Diskreditierungskampagnen belegt (Topcu 2025). Die Gefahr besteht, dass sich ein staatlich geprägtes, restriktives Klima über die Imam-Ausbildung und die Gemeindepraxis bis nach Deutschland fortsetzt. Die Auswirkungen spüren Muslime in Deutschland bereits schon: Die Werke der bereits erwähnten Autoren verschwinden bereits regelmäßig im vorauseilenden Gehorsam aus den Buchhandlungen, die von Verbänden wie DITIB oder IGMG für ihre Gemeinden und Mitglieder betrieben werden. Von den über 40 Werken des renommierten Koran-Gelehrten Prof. Dr. Mustafa Öztürk findet man weder im DITIB-Buchshop, noch im Buchshop der IGMG auch nur ein einziges Werk mehr, obwohl diese Werke dort noch bis vor einigen Jahren erhältlich waren.

Fazit

Die von Rashid gelobte Ausbildungsreform ist ein organisatorischer Fortschritt, aber kein echter Mentalitäts- oder Strukturwandel. Die DITIB bleibt – trotz aller Reformrhetorik – strukturell und funktional ein Instrument des türkischen Staates. Wer von echter Emanzipation spricht, muss sich mit der Organisationssoziologie der DITIB, der politischen Funktion und der fehlenden Diskursfähigkeit der DITIB auseinandersetzen.

Die Hoffnung auf Wandel bleibt naiv, solange die grundlegenden Mechanismen der Kontrolle, der Identitätspolitik und der politischen Instrumentalisierung nicht überwunden werden. Es braucht einen realistischen, kritischen und pluralitätsorientierten Blick auf den organisierten Islam in Deutschland – und den Mut, die DITIB an ihren Strukturen und nicht an ihren PR-Gesten zu messen.


Literatur

  • Aslan, Serdar. 2025. „Die muslimische Freitagspredigt in Deutschland: Bestandsaufnahme und Stand der Forschung“. Forum Islamisch-Theologische Studien. https://doi.org/10.71573/2941-122X_2025_4-1_125.
  • Bundesministerium des Innern und für Heimat. 2023. „Beendigung der Imam-Entsendung aus der Türkei“. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2023/12/imam-ausbildung.html, abgerufen 28.07.2025.
  • Diettrich, Silke, Andreas Maus, und Hüseyin Topel. 2023. „Türkeiwahlen in Deutschland: Wahlkampf undercover“. Tagesschau. https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/tuerkei-wahlkampf-deutschland-100.html, abgerufen 28.07.2025.
  • Güvercin, Eren. 2025a. „Ditib und Co.: Wir deutschen Muslime haben Besseres verdient“. WELT. https://www.welt.de/debatte/plus255336398/Ditib-und-Co-Wir-deutschen-Muslime-haben-Besseres-verdient.html, abgerufen 28.07.2025.
  • Güvercin, Eren. 2025b. „Tweet zu Ditib Freitagspredigt vom 11. Juli 2025“. Https://x.com/erenguevercin/status/1943646725576556646. https://x.com/erenguevercin/status/1943646725576556646, abgerufen 28.07.2025.
  • Jörn Thielmann. 2025. „Radikalisierung? Hinweise für das Alltagsleben statt Aufruf zum Hass“. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. https://www.fau.de/2025/05/news/radikalisierung-hinweise-fuer-das-alltagsleben-statt-aufruf-zum-hass/, abgerufen 28.07.2025.
  • NDR. 2025. „Hamas-Verehrer aus der Türkei durfte in Hamburg auftreten“. Norddeutscher Rundfunk. https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/hamas-verehrer-aus-der-tuerkei-durfte-in-hamburg-auftreten,enbiya-yildirim-100.html, abgerufen 28.07.2025.
  • Pehlivan, Erkan. 2022. „Türkei: Erdogan-Partei AKP startet Wahlkampf in deutschen Moscheen“. Frankfurter Rundschau. https://www.fr.de/politik/tuerkei-akp-ditib-milli-goerues-wahlkampf-recep-tayyip-erdogan-zr-91813842.html, abgerufen 28.07.2025.
  • Rashid, Abdul-Ahmad. 2025. „Die DITIB-Emanzipation - Öffnet sich der muslimische Dachverband zur Mitte hin?“ Herder Korrespondenz. https://www.herder.de/herder-korrespondenz/.
  • Topcu, Elmas. 2025. „Türkei: Diyanet darf Koranübersetzungen zensieren“. Deutsche Welle. https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-diyanet-darf-koran%C3%BCbersetzungen-zensieren/a-72876914, abgerufen 28.07.2025.

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