Nahost-Debatte: Aufrichtigkeit vor Theorie

Warum unser Handeln hier und heute mehr zählt als jede abstrakte Universalismus-Debatte

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Nahost-Debatte: Aufrichtigkeit vor Theorie

Im Umgang mit dem Nahost-Konflikt zeichnen sich aus muslimischer Perspektive in Deutschland unterschiedliche Wege ab. Der eine, den der Jurist und Publizist Murat Kayman jüngst als schmerzhafte Notwendigkeit beschrieb, fordert Aufrichtigkeit und Verantwortung vor der eigenen Haustür (Murat Kayman, deutschlandsolidarisch, 06.10.2025). Ein anderer Weg findet sich in Aiman Mazyeks Kommentar "»Nie wieder« gilt universell" (Zenith vom 02.10.2025), einem rhetorischen Versuch die Debatte ins Abstrakte zu verlagern. Mit Kant, Bourdieu und dem Koran als Zeugen kritisiert er eine erstarrte deutsche Erinnerungskultur, die - in einer "Falle" des unreflektierten Traditionalismus gefangen - ihr universelles Versprechen verrät. Mazyeks Plädoyer für einen inklusiven, alle Menschen umfassenden Humanismus klingt auf den ersten Blick nobel und unangreifbar.

Doch die vermeintliche Eleganz der Mazyekschen Dreiecks-Theorie aus Koran, Bourdieu und Kant verflüchtigt sich, sobald sie der konkreten Realität unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland gegenübersteht. Der Kommentar leidet an einem grundsätzlichen Geburtsfehler: Er ignoriert die hässliche Wirklichkeit vor der eigenen Haustür und flüchtet sich in eine internationalisierte abstrakte Kritik an staatlichem Handeln. Dabei übergeht er die eigentliche moralische Katastrophe, die Murat Kayman als die „höchsteigene Zerrüttung und Verrohung [der] muslimischen Gemeinschaften“ beschreibt (Kayman, 2025).

Dabei fällt besonders die selektive Argumentation des Autors ins Gewicht. Mazyek wirft der deutschen Politik eine einseitige Wahrnehmung vor, praktiziert diese aber selbst in Reinform. Sein Kommentar erwähnt ausschließlich das Leid der Palästinenser und die Kriegsverbrechen in Gaza. Der auslösende Kontext des Gaza-Krieges, das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023, wird mit keinem Wort erwähnt. Ein wahrhaft universeller Humanismus, den Mazyek einfordert, müsste das Leid aller Zivilisten und die Verbrechen aller Konfliktparteien gleichermaßen benennen und verurteilen. Indem er dies unterlässt, wird sein Plädoyer für Universalismus selbst zu einem partikularen, einseitigen Statement und verliert seine moralische Überzeugungskraft. Er übergeht damit genau jene Zäsur, die Kayman als den Ausgangspunkt einer „tiefen Spaltung unserer Gesellschaft“ identifiziert, die sich seither Bahn bricht (Kayman, 2025).

Es wäre vermessen und moralisch ebenso verwerflich, die grausamen und unnötigen Tode von zehntausenden Zivilisten in Gaza unerwähnt zu lassen. Die humanitäre Katastrophe, das unermessliche Leid der palästinensischen Bevölkerung, insbesondere der vielen Kinder, ist eine Realität, die ihren Platz in der Debatte einnehmen muss. Jede ernstzunehmende moralische Position muss dieses immense Leid anerkennen und den Schutz der Zivilbevölkerung als oberste Priorität fordern. Die Tragik und das Versäumnis von Kommentaren wie dem von Aiman Mazyek liegen gerade darin, dass sie eine dieser Realitäten – das Leid in Gaza – gegen die andere – den Terror vom 7. Oktober – ausspielen, anstatt die schmerzhafte Notwendigkeit anzuerkennen, beide zu sehen: den terroristischen Ursprung des Krieges und seine katastrophalen humanitären Folgen.

Die wahre Falle des unreflektierten Handelns

Mazyek diagnostiziert eine "Bourdieu-Falle" in der deutschen Staatsräson: offen und dynamisch nach außen, während im Innern "festgelegten, unsichtbaren Mustern" gefolgt wird. Mazyek sieht diese Muster einerseits in der Position Deutschlands gegenüber Israel, aber auch in der Rolle des "Nie wieder" in der Erinnerungskultur, wenn es um das Erkennen von aktuellen Entwicklungen wie Rassismus, Antiziganismus oder Islamfeindlichkeit in Deutschland geht.

Mazyek liefert in dem Beitrag ein Paradebeispiel dafür ab, wie anderen vorgehaltenes,kritikwürdiges Handeln im eigenen Beitrag selbst reproduziert werden können. Denn die Entwicklungen auf deutschen und europäischen Straßen nach dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel, die Haltung der muslimischen Verbände - in denen Mazyek immer noch eine Rolle spielt - lassen die Fragen aufkommen, wo denn tatsächlich das von Mazyek identifizierte mechanische, unreflektierte und gefährliche Handeln stattfindet? Finden wir dieses Handeln in den komplexen, von historischer Verantwortung geprägten, öffentlich immer kontroverser diskutierten Abwägungen der deutschen Politik? Oder finden wir dieses Handeln nicht vielmehr im unreflektierten Import von Narrativen, Symbolen und dem Hass eines fernen Konflikts auf deutsche Straßen wieder? Es ist genau jener Prozess, den Kayman beklagt, wenn er schreibt: „Wir Muslime haben mehrheitlich die Narrative, die Symbole, die Slogans und Trennlinien des Nahostkonflikts und des Gaza Krieges hier nach Deutschland übertragen“ (Kayman, 2025).

Wahres unreflektiertes Handeln ist es, wenn Slogans, die im Nahen Osten leider und gerade auch von Terrororganisationen zum Aufruf zur Auslöschung eines Staates genutzt werden, auf Demonstrationen in Berlin oder Essen skandiert werden. Es ist das unreflektierte Feiern von Terroristen als "Widerstandshelden". Es ist die unreflektierte Übernahme einer Täter-Opfer-Umkehr, die den Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 – den Mazyeks Text bezeichnenderweise komplett ausspart – als legitimen Akt des Widerstands umdeutet. Hier liegt die wahre Falle: in einer emotionalisierten und ideologisierten Nachahmung, die jede kritische Selbstreflexion vermissen lässt.

Der Missbrauch der universellen Sprache

Mazyek fordert zu Recht, dass das "Nie wieder" universell gelten muss. Doch er verschweigt, wie diese universelle Sprache in der Praxis pervertiert und instrumentalisiert wird. Die Forderung, die deutsche Politik müsse lauter (oder vielleicht nur noch?) von "Kriegsverbrechen" sprechen, ignoriert, wozu diese Rhetorik in bestimmten Milieus dient.

Am heikelsten ist dabei die von Mazyek gezogene Analogie. Er betont zwar pro forma die Singularität des Holocaust, nutzt aber die daraus abgeleitete Lehre des "Nie wieder" als direkten moralischen Maßstab, um die deutsche Haltung zu den "Kriegsverbrechen in Gaza" zu verurteilen. Diese direkte Verknüpfung ist hochproblematisch. Eine solche Anwendung relativiert die historische Spezifik des Holocaust – eines antisemitisch-ideologisch motivierten, industriell organisierten Völkermords – indem sie ihn als Blaupause für die Verurteilung eines komplexen politischen, historischen und militärischen Konflikts instrumentalisiert. Die rhetorische Figur läuft Gefahr, genau das zu tun, was sie zu vermeiden vorgibt: Sie vergleicht implizit die Situation in Gaza mit den Bedingungen, die zum Holocaust führten, und entwertet damit die Einzigartigkeit des Zivilisationsbruchs.

Die Verwendung von Bourdieu, Kant und dem Koran wirkt vor diesem Hintergrund wie ein intellektuelles Feigenblatt für eine bereits feststehende politische Position. Die komplexe Theorie der "Bourdieu-Falle" wird zu einem griffigen Schlagwort vereinfacht, um eine vielschichtige politische Haltung wie die deutsche Staatsräson als bloßen unreflektierten Traditionalismus zu diskreditieren. Die deutsche Debatte über Israel ist jedoch alles andere als unreflektiert; sie ist vielmehr von schmerzhaften Abwägungen, tiefen inneren Widersprüchen und einer ständigen öffentlichen Auseinandersetzung geprägt. Die Theorien dienen hier weniger der Analyse als der Veredelung einer vorgefassten Meinung.

Der Vorwurf des "Genozids" – die ultimative Steigerung – wird, wie Murat Kayman in seiner Analyse darlegt, nicht primär aus Empathie für zivile Opfer erhoben. Vielmehr erfüllt er eine strategische, dreifache Funktion: Erstens dient er als moralische Lizenz zur Entmenschlichung der Gegenseite, um die „beispiellose Grausamkeit des 7. Oktober verblassen“ zu lassen. Zweitens soll er den Terror nachträglich als „legitimen Widerstand“ adeln. Und drittens, so die gefährlichste Funktion, dient er als „globaler Mobilisierungsruf zur Gewalt gegen Jüdinnen und Juden weltweit“ (Kayman, 2025) die unter dem Deckmantel der "Notwehr" gegen ein vermeintlich "genozidales Volk" legitimiert werden soll.

Wer diese Funktion der Sprache ignoriert und eine undifferenzierte Anwendung universeller Begriffe fordert, macht sich, ob gewollt oder nicht, zum nützlichen Helfer jener, deren Ziel nicht Humanismus, sondern Hass ist. Einem moralischen Anspruch, der die eigene Verantwortung für die Konsequenzen der eigenen Worte ausblendet, fehlt jede Glaubwürdigkeit.

Erinnerung ist keine Einbahnstraße

Am problematischsten ist Mazyeks Klage über eine mangelnde Inklusion von "Neudeutschen" in die deutsche Erinnerungskultur. Es ist tatsächlich ein Versäumnis so einiger Institutionen, wenn Erinnerung nicht mehr funktioniert wie vor vielleicht 50 Jahren, mit präsenten Zeitzeugen und einer weniger diversen Gesellschaft. Erinnerungskultur muss auch die Gesellschaft kennen und anerkennten, in der sie funktionieren will. Doch ist Erinnerungskultur nicht einfach eine explizite Aufgabe einer vermeintlichen Mehrheits- oder Dominanzgesellschaft, noch eine ausschließliche Verantwortung der Enkel und Urenkel der Täter. Erinnerung ist ein vielseitiger Prozess, der die Bereitschaft aller voraussetzt, die fundamentalen Werte der Gesellschaft, in die man sich erinnern will, zu teilen.

Hier muss auch die Rolle des Autors selbst und der von ihm lange geführten Verbände kritisch hinterfragt werden. Als langjähriger Vorsitzender des Zentralrats der Muslime spricht Mazyek aus einer Position heraus, die Mitverantwortung für den Zustand der Debatte in den muslimischen Gemeinschaften trägt. Sein Text kann als Versuch gelesen werden, die Perspektive vieler Muslime in den deutschen Leitdiskurs einzuspeisen. Gleichzeitig verschweigt er die eklatante Führungsschwäche der großen muslimischen Verbände nach dem 7. Oktober. Ihr ohrenbetäubendes Schweigen oder ihre Unfähigkeit, den Hamas-Terror unzweideutig als solchen zu benennen, führte dazu, dass sie das Zepter des Handelns in der muslimischen und migrantischen Community weitgehend der Straße überlassen haben. Diese Passivität manifestiert sich für Kayman ganz konkret im Versäumnis des „geistlichen Personals“, das es in zwei Jahren „nicht ein einziges Mal gelungen“ sei, geschlossen für die Geiseln zu beten oder durch das Hissen beider Flaggen – der palästinensischen und der israelischen – ein glaubwürdiges Zeichen für eine Zwei-Staaten-Lösung zu setzen (Kayman, 2025).

Ein "aktives Mitgestalten" der Erinnerungskultur funktioniert nicht in einer Gesellschaft, aus dessen Mitte heraus jüdisches Leben in Deutschland bedroht wird? Wie kann man über eine zukunftsorientierte Gedenkarbeit sprechen, wenn – wie Kayman es mit bitterer Dringlichkeit formuliert – „der öffentliche Raum kein safe space mehr für Juden ist“ (Kayman, 2025), für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sogar zum Angstraum wird? Wenn jüdische Symbole versteckt werden müssen und Kinder in der Schule aus Angst ihre Identität verschweigen, weil es, so Kayman, die eigene Community „kalt lässt“?

Die Verantwortung für eine gelingende Erinnerungskultur liegt bei allen Untergruppen und -communites der Gesellschaft, gerade auch wenn Teile einer Minderheit die grundlegendste Lehre der deutschen Geschichte – den unbedingten Schutz jüdischen Lebens – aktiv untergraben oder gleichgültig dabei zusehen. Ein zweifellos bestehender Anspruch auf Mitgestaltung erfordert auch Bereitschaft zur Solidarität mit allen Menschen in diesem Land.

Fazit: Verantwortung hier und jetzt

Ein glaubwürdiges "Nie wieder" beweist sich nicht in der abstrakten Kritik an der Außenpolitik. Es beweist sich im konkreten Handeln hier und heute. Es beweist sich in der unzweideutigen Verurteilung von Terror, gleich von wem er ausgeht. Es beweist sich im Gebet für die israelischen Geiseln ebenso wie im Mitgefühl für die zivilen Opfer in Gaza.

Solange prominente Stimmen, auch aus der muslimischen Community, diese konkrete, gelebte Verantwortung für das Zusammenleben in Deutschland einer theoretischen Universalismus-Rhetorik unterordnen, bleibt ihr Beitrag nicht nur leer, sondern gefährlich. Denn er lenkt von der wahren Aufgabe ab: der Etablierung und der Verteidigung unseres friedlichen Zusammenlebens gegen jene, die Hass zu ihrer treibenden Motivation gemacht haben.

Wahre moralische Haltung beginnt mit der Aufrichtigkeit vor der eigenen Haustür, nicht mit dem Zeigefinger auf Andere. Oder, um es mit der abschließenden Forderung Kaymans zu sagen: Wer glaubwürdig palästinasolidarisch sein will, „der muss zunächst deutschlandsolidarisch sein“ und beweisen, dass er sich für das friedliche Zusammenleben hierzulande einsetzt (Kayman, 2025).

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