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Çağrıcı „Necip Fazıl – ein Mensch der Ideologie“

Necip Fazıl Kısakürek (geb. 1904) ist in der Türkei nicht erst mit der AKP-Regierungszeit zu Ruhm gekommen, zumal er bereits 1983 verstarb. Aber wohl kaum in einer anderen Phase des Landes war NFK, wie Necip Fazıl Kısakürek gerne abgekürzt wird, mit seinem Werk so wirkmächtig, wie in den letzten fast 20 Jahren. Seine Rezeption ist in konservativen Kreisen weit verbreitet, selbst der Präsident hat in seinen Reden immer wieder einen passenden Vers parat. Die Kritik an Kısakürek aus dem linken und kemalistischen Spektrum dürfte in ihrer Intensität der Glorifizierung auf der konservativen Seite entsprechen. Ein aktuelles Beispiel dieser Kritik kann man in Hasan Aksals „Türk Muhafazakarlığı’ (Der türkische Konservatismus) nachlesen, der ich mich inhaltlich auch weitgehend anschließen kann.

Was relativ selten wahrgenommen wird, ist die Kritik an Kısakürek von wiederum anderen Konservativen. Zum einen macht die Glorifizierung der Person Necip Fazıl es nicht leicht, aus dem konservativen Mainstream mit Kritik auszubrechen. Zum anderen läuft man nicht selten auch Gefahr, sich mit der Kritik an NFK als „Nestbeschmutzer“ heftigen Anfeindungen auszusetzen.

Umso bemerkenswerter ist vor diesen Hintergrund ein Beitrag des ehemaligen Muftis von Istanbul, Prof. Mustafa Çağrıcı, in seiner Kolumne in der Tageszeitung Karar, der Mitte Februar erschienen ist. Auch Çağrıcı erweckt zu Beginn seines Beitrags den Eindruck, dass er Kısakürek mehr lobt als kritisiert, jedoch sind die Analysen und das Fazit Çağrıcıs am Ende doch sehr eindeutig. Der Beitrag wurde zu Dokumentationszwecken aus dem Türkischen übersetzt:

Mustafa Çağrıcı: „Necip Fazıl – ein Mensch der Ideologie“

Vor einiger Zeit bin ich auf den Social Media Post eines jungen Menschen gestoßen, der einen Zweizeiler von Necip Fazıl geteilt und dazu geschrieben hatte: “Immer hat er schon die Wut in uns kanalisiert (wörtl. hat er die Wut in uns übersetzt)”. Diesen Beitrag hier habe ich aufgrund jenes Posts geschrieben. Ziel meines Beitrags ist es nicht, über die zu richten, die wir der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit des Herrn anvertraut haben, sondern die Millionen, die diese als ein “Sprachrohr ihrer inneren Wut” ansehen, vielleicht noch einmal zum Nachdenken anzuregen.

Mir steht es nicht zu, die Dichterqualitäten Necip Fazıls zu bewerten. Meine Bewunderung dafür wächst bei jeder Lektüre. Sie wissen schon, der Selige war recht narzisstisch; er gab sich in keiner seiner Eigenschaften mit dem zweiten Platz zufrieden, aber berechtigt war sein Führungsanspruch hauptsächlich im Bereich der Dichtkunst. Der Meisterstatus seiner Lyrik, seiner Prosa und Rhetorik ist unbestritten. Diejenigen, die in ihm in diesen Bereichen einen Meister sehen, sie haben Recht. Als falsch empfinde ich es jedoch, ihm eine Meinungsführerschaft zuzugestehen. Dass er gerade mit seinen Ideen als Vorbild gesehen und überhöht wird, ist eines der Gründe, warum religiöse Kreise [in der Türkei, der Übers.] unter einer Verflachung der Meinungsbildung leiden. Die ideologische Bewunderung, die Necip Fazıl zukommt, hat einerseits die militante und auf Konfrontation abzielende Geisteshaltung einer ganzen Generation gestärkt, andererseits aber ihre Ideen, ihr Wissen, ja sogar ihre Moralität verkümmern lassen.

Wenn wir trotz aller Anstrengungen auf dem Weg zur Demokratie noch immer keine zeitgenössische Toleranzkultur haben entwickeln können, ja sogar unsere alte Nachsichtigkeit verloren haben, der muslimischen Welt kein Modell des friedlichen Zusammenlebens haben anbieten können, wenn wir statt uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen keinen auf unsere Werte und zeitgenössische Wahrheiten aufbauenden muslimischen Rechtsstaat und Gesellschaft haben aufbauen können, dann ist dies meiner Meinung nach auch – zusammen mit militanten Positivsten, Sozialisten und Laizisten – eine Sünde von islamistischen Ideologen (oder Demagogen) wie dem Meisterdichter Necip Fazıl und dem Möchtegern-Historiker Kadir Misiroğlu.

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Hätten doch Necip Fazıl und die anderen mehr den Verstand ihrer Verehrer angesprochen als ihre Emotionen! Hätte insbesondere Necip Fazıl sein gottgegebenes Dichtergenie statt für das Heranwachsen einer ideologisierten und zornigen Generation mit hochkochenden, pathetischen Emotionen, doch für das Heranwachsen einer Generation genutzt, deren Geist von Wissen und Kontemplation, deren Herz von der Vergebung und Nachsichtigkeit des Propheten bereichert werden. Nur war dies nicht der Fall. Letztendlich hat den Platz eines das Individuum und die Gesellschaft aufklärenden, vernünftigen und produktiven Stiftens einer Einheit die unkontrollierte Reaktion und Zersetzung eingenommen, die von der Ideologisierung und Emotionalisierung befeuert wird. Eines der dramatischsten Beispiele dieser Entwicklungen ist der Widerstandssturms einiger Möchtegern-Vertreter des politischen Islamismus gegen Akif [gemeint ist Mehmet Akif Ersoy, der Dichter der türkischen Nationalhymne, der Übers.]. Dass eine solche Generation von “Islamisten” entstehen konnte, daran hat Necip Fazıl – zusammen mit Kadir Misiroglu – einen großen Anteil.

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Der Hochmut und der Neid des seligen Meisters waren so unbändig wie seine Dichtkunst. Dies dürfte mit ein Grund für seinen herablassenden Blick auf Akif sein. Seine “Hymne des Großen Ostens” (Büyük Doğu Marşı) hatte er als Alternative zur Nationalhymne verfasst. Akif gehörte auch zu den Persönlichkeiten, die er in seiner Beitragsserie “Literatur Gericht” im Büyük Doğu [eine von Necip Fazıl ab 1943 verlegte Zeitschrift, der Übers.] einem Verhör unterzogen hat. Hier warf er Akif vor, als Islamist versagt zu haben und die “Idee der Nationalität” zu vertreten. In seinem “Urteil” kommt er zum Schluss, dass Akif ein “unfähiger Denker”, ein “kleiner Dichter” ist. Der Meister hatte noch viel herablassendere Aussagen zum Denken und Dichten Akifs.

Wenn wir die großen Unterschiede in der Moralität und den Charakteren des Meisters und Akifs mal beiseitelassen, so treten ihre großen Denkunterschiede in ihrem Verständnis des Islamismus zu Tage. Akif hinterfragte die Tradition; er berücksichtigte die Vernunft, die Wissenschaft, die Realitäten seiner Zeit; er war gepeinigt von der Suche nach dem tugendhaften Muslim, der seine Haltung nicht an seinem Eigennutz ausrichtet. Der Meister hat dagegen eine die Emotionen und das Pathos aufwallende, populistische, traditionalistische und reaktionäre Prosa des Islamismus verbreitet. Die Religiosität, die Akif und andere Anhänger seiner Generation der Islamisten vermitteln wollten, war eine Religiosität, die zur Selbstkritik führte, die Ursache für Misserfolg zuerst in der eigenen Ignoranz, Faulheit und Tugendlosigkeit suchte. Necip Fazıl, Kadir Mısıroğlu und ihnen ähnliche vermittelten ihrer Gefolgschaft einen Islamismus, der die eigenen Unzulänglichkeiten versteckt, aber dafür Andere anklagt, die Gefolgschaft mit Zorn und Hass auflädt, revanchistisch und rachedurstig ist.

Das Letztere erschien den Trieben anziehender und “nützlicher”. Deswegen hat sie die erstere Haltung zurückgedrängt. Und das Ergebnis sehen wir!

Relevanz für Deutschland?

Es mag nicht auf Anhieb klar werden, warum der türkische Schriftsteller, Journalist und politischer Aktivist Necip Fazıl Kısakürek und die Kritik an ihm eine Relevanz für uns hier in Deutschland haben sollte. Kısaküreks Rezeption beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Türkei. Über die türkeistämmige Community erhält NFK auch eine Rolle in unseren Diskursen - ebenso die Kritik Çağrıcıs.

Kısakürek ist aufgrund dessen, was er propagiert und wie er es propagiert, ein problematischer, sogar ein gefährlicher Autor. Seine Sprache ist geprägt von einem kulturellen Absolutheitsanspruch, das keinen Raum für Differenz und Pluralismus zulässt. Toleranz gibt es nur bei Unterwerfung unter seine Vorstellung dessen, was er als Weltanschauung unter dem Begriff “Büyük Doğu” (tr. Großer Osten) zusammenfasst. Seine Arbeit ist durchzogen von der Abwertung Andersdenkender und der Minderheiten in der Türkei.

Tragend für Kısaküreks Arbeit ist sein “Abarbeiten” am Feind, je nach dem, welchen er gerade ins Visier nimmt. Kısakürek braucht den Feind, ein Umstand, der auch ihm selbst nicht verborgen bleibt. Ganz offen huldigt er “Meinem Feind” in einem eigenen Gedicht: “O mein Feind, du bist mein Ausdruck und meine Kraft; Der Tag braucht die Nacht und ich brauche dich!”